Warum Antidepressiva emotional „dämpfen“ können

Dauerhafter Einsatz des SSRI-Antidepressivums Escitalopram hat bei gesunden Probanden spezifische Auswirkungen auf Verstärkungslernen

Warum Antidepressiva emotional „dämpfen“ können

23.01.2023 Wissenschaftler haben herausgefunden, warum gängige Antidepressiva dazu führen, dass sich etwa die Hälfte der Anwender emotional „abgestumpft“ bzw. „gedämpft“ fühlt. In einer in der Zeitschrift Neuropsychopharmacology veröffentlichten Studie zeigen sie, dass die Medikamente das Verstärkungslernen beeinträchtigen – einen wichtigen Verhaltensprozess, der es den Menschen ermöglicht, von ihrer Umwelt zu lernen.

Eine weit verbreitete Klasse von Antidepressiva, insbesondere bei anhaltenden oder schweren Fällen von Depressionen, sind selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Diese Medikamente zielen auf Serotonin ab, eine Substanz, die Nachrichten zwischen den Nervenzellen im Gehirn übermittelt und zuweilen auch als „Glückshormon“ bezeichnet wird.

Dämpfung der Emotionen

Eine der am häufigsten berichteten Nebenwirkungen von SSRI ist das „Abstumpfen“ bzw. „Dämpfung“, bei dem die Patienten berichten, dass sie sich emotional abgestumpft fühlen und Dinge nicht mehr so erfreulich emfinden, wie sie es früher getan haben. Es wird angenommen, dass zwischen 40 und 60 % der SSRI-Patienten von dieser Nebenwirkung betroffen sind.

Bislang haben die meisten Studien über SSRI nur deren kurzfristige Einnahme untersucht. Für den klinischen Einsatz bei Depressionen werden diese Medikamente jedoch über einen längeren Zeitraum anhaltend eingenommen. Ein Team unter der Leitung von Forschern der Universität Cambridge untersuchte in Zusammenarbeit mit der Universität Kopenhagen dieses Problem, indem es gesunde Freiwillige rekrutierte und ihnen Escitalopram (ein SSRI, das als eines der am besten verträglichsten bekannt ist) über mehrere Wochen verabreichte und die Auswirkungen des Medikaments auf ihre Leistung bei einer Reihe von kognitiven Tests untersuchte.

Auswirkung von Escitalopram auf das Verstärkungslernen

Insgesamt nahmen 66 Freiwillige an dem Experiment teil, von denen 32 Escitalopram und die anderen 34 ein Placebo bekamen. Die Probanden nahmen das Medikament oder das Placebo mindestens 21 Tage lang ein und füllten einen umfassenden Satz von Fragebogen zur Selbsteinschätzung aus und wurden einer Reihe von Tests unterzogen, um kognitive Funktionen wie Lernen, Hemmung, Exekutivfunktion, Verstärkungsverhalten und Entscheidungsfindung zu bewerten.

Das Team fand keine signifikanten Gruppenunterschiede bei den „kalten“ kognitiven Funktionen, wie Aufmerksamkeit und Gedächtnis. Auch bei den meisten Tests zur „heißen“ Kognition – kognitive Funktionen, die unsere Emotionen betreffen – gab es keine Unterschiede.

Das wichtigste neue Ergebnis war jedoch, dass die Escitalopram-Gruppe bei zwei Aufgaben eine geringere Verstärkungssensitivität aufwies als die Placebogruppe. Beim Verstärkungslernen lernen wir aus Rückmeldungen zu unseren Handlungen durch unserer Umwelt.

Um die Verstärkungssensitivität zu bewerten, verwendeten die Forscher einen „probabilistischen Umkehrtest“. Bei dieser Aufgabe wurden den Teilnehmern in der Regel zwei Reize gezeigt, A und B. Wenn sie A wählten, erhielten sie in vier von fünf Fällen eine Belohnung; wenn sie B wählten, erhielten sie nur in einem von fünf Fällen eine Belohnung. Diese Regel wurde den Probanden nicht mitgeteilt, sondern sie mussten sie selbst erlernen, und irgendwann im Verlauf des Experiments änderten sich die Wahrscheinlichkeiten, und die Teilnehmer mussten die neue Regel erlernen.

Die Escitalopram-Gruppe nutzte dabei weniger häufig die positiven und negativen Rückmeldungen, um sich beim Erlernen der Aufgabe zu orientieren, als Teilnehmer der Placebo-Gruppe. Dies deutet darauf hin, dass das Antidepressivum ihre Sensibilität für die Belohnungen und ihre Fähigkeit, entsprechend zu reagieren, beeinträchtigte.

Dieser Befund könnte auch den einzigen Unterschied erklären, den das Team in den Fragebogen mit Selbstauskünften feststellte: Teilnehmer der Escitalopram-Gruppe hatten mehr Schwierigkeiten, beim Sex zum Orgasmus zu kommen – eine Nebenwirkung, über die Patienten häufig berichten.

Wirkung und Nebenwirkungen: Dämpfung von Schmerz und Freude

Studienautorin Prof. Barbara Sahakian vom Fachbereich für Psychiatrie an der Universität Cambridge sagte: „Emotionale Dämpfung ist eine häufige Nebenwirkung von SSRI-Antidepressiva. In gewisser Weise ist dies vielleicht ein Grund für ihre Wirkung – sie nehmen Menschen mit Depressionen einen Teil des emotionalen Schmerzes, aber leider scheinen sie ihnen auch einen Teil der Freude zu nehmen. Aus unserer Studie geht hervor, dass dies darauf zurückzuführen ist, dass sie weniger empfindlich auf Belohnungen reagieren, die ihnen ein wichtiges Feedback geben“.

Koautorin Dr. Christelle Langley fügte hinzu: „Unsere Ergebnisse liefern wichtige Hinweise auf die Rolle von Serotonin beim Verstärkungslernen. Wir werden diese Arbeit mit einer Studie fortsetzen, in der wir Neuroimaging-Daten untersuchen, um die Auswirkungen von Escitalopram auf das Gehirn beim Belohnungslernen zu verstehen.“

© arznei-news.de – Quellenangabe: Neuropsychopharmacology (2023). DOI: 10.1038/s41386-022-01523-x

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