4-Aminopyridin: Erste spezifische medikamentöse Therapie für eine schwere Frühform der Epilepsie (‚gain-of-function‘-KCNA2-Enzephalopathie)
03.09.2021 Epilepsie tritt in verschiedenen Formen auf. Bei der genetisch bedingten Form treten bereits im ersten Lebensjahr schwere epileptische Anfälle auf. Die Krankheit geht mit schweren Entwicklungsstörungen einher: Das Gehen fällt ihnen schwer, sie haben Konzentrationsschwierigkeiten und später Probleme beim Sprechen, Rechtschreiben und Rechnen.
MS-Medikament 4-Aminopyridin
Bislang war diese Form der Epilepsie mit den üblichen Medikamenten nur schwer zu behandeln. Tübinger Forscher haben nun erstmals ein Medikament eingesetzt, das eigentlich für die Behandlung von Multipler Sklerose zugelassen ist. Es wirkt direkt gegen den zugrundeliegenden Gendefekt und lindert erfolgreich die Symptome der Patienten, berichtet das Team um Dr. Ulrike Hedrich-Klimosch von der Universität Tübingen. Damit steht den betroffenen Kindern und Erwachsenen erstmals eine pharmakologische Behandlung zur Verfügung. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift Science Translational Medicine veröffentlicht worden.
Defekte Kaliumkanäle im Gehirn
Die Ursache für diese Form der frühkindlichen Epilepsie ist ein seltener Gendefekt. Mutationen im KCNA2-Gen führen zu defekten Kaliumkanälen im Gehirn. Kaliumkanäle sind kleine Poren in der Zellmembran von Nervenzellen und wichtig für die Weiterleitung von elektrischen Signalen, erklärt Erstautorin und Biologin Hedrich-Klimosch. Bei einigen Subtypen der Krankheit führen die Mutationen zu einer erhöhten Aktivität des Kanals. In diesen Fällen sprechen wir von einer ‚gain-of-function‘-Mutation.
Wirksamkeit von 4-Aminopyridin
Erstmals setzte das Forscherteam ein Therapiemedikament ein, das gezielt an dieser Stelle ansetzt. Eine ursachenbezogene Therapie muss in diesem Fall die erhöhte Kanalaktivität hemmen, erklärt Co-Erstautor und Neurologe Dr. Stephan Lauxmann. Ein solcher Kanalblocker ist der Wirkstoff 4-Aminopyridin. Er hemmt gezielt die Überaktivität der Kaliumkanäle und ist der Wirkstoff eines Medikaments, das zur Behandlung von Gangstörungen bei Multiple-Sklerose-Patienten zugelassen ist.
In Zusammenarbeit mit acht anderen Zentren weltweit behandelte das Team elf Patienten in n-of-1-Versuchen mit dem Medikament. Die Ergebnisse waren ermutigend: Bei neun von ihnen verbesserten sich die Symptome. Die Zahl der täglichen epileptischen Anfälle wurde reduziert oder verschwand ganz. Die Patienten waren im Allgemeinen viel wacher und geistig fitter im Alltag. Auch ihr Sprachvermögen verbesserte sich nach Beginn der medikamentösen Behandlung, schreiben die Autoren.
Medikament wirkt nicht bei allen Untertypen der Krankheit
Das Medikament wirkt nicht bei allen Untertypen der Krankheit. In einigen Fällen führt die Genmutation zu einer eingeschränkten Aktivität der Kaliumkanäle. Damit Ärzte schnell entscheiden können, ob das Medikament einem Patienten mit einem neu diagnostizierten KCNA2-Gendefekt helfen kann oder nicht, haben die Forscher eine Datenbank erstellt. Sie listet die verschiedenen Mutationen aus der KCNA-Genfamilie und die damit verbundenen Auswirkungen auf den Kaliumkanal auf. So kann schnell eine Therapie eingeleitet und der oft schwere Krankheitsverlauf gemildert werden.
Epilepsien, die durch KCNA2-Genmutationen verursacht werden, sind sehr seltene Erkrankungen. Weltweit sind nicht viel mehr als 50 Fälle bekannt, berichtet Studienleiter und Neurologe Prof. Dr. Holger Lerche. Die Entwicklung eines geeigneten Medikaments für diese „Waisenkinder der Medizin“ ist in der Regel zu teuer und für Pharmaunternehmen nicht rentabel genug. Umso mehr freuen sich die Forscher, wenn sie diesen Patienten mit dem sogenannten Drug Repurposing individuell helfen können: Die Verwendung von Medikamenten, die eigentlich für andere Krankheiten zugelassen sind.
© arznei-news.de – Quellenangabe: Science Translational Medicine (2021). DOI: 10.1126/scitranslmed.aaz4957