Das Stigma der Antidepressiva

Stigmatisierung der Behandlung mit Antidepressiva: Die Angst der depressiven Patienten um ihr ‚kleines schmutziges Geheimnis‘

21.11.2015 Eine qualitative Forschungsstudie der University of Westminster (zusammen mit australischen und englischen Universitäten) zeigt, dass 30 Jahre nach der Einführung von Prozac (Fluoxetin) viele Depressive immer noch die Legitimität der Antidepressiva anzweifeln und eine Stigmatisierung vorhanden ist.

Insbesondere äußerten sie Sorgen, dass sie damit in die Nähe verbotener Substanzen geraten (hielten die Einnahme geheim, hatten Angst vor Abhängigkeit und den damit drohenden Entzugserscheinungen, hatten Angst vor Veränderungen der Persönlichkeit und Angst vor den Auswirkungen auf die Psyche). Solche Sorgen / Stigmata bedeuten auch, dass deshalb einige Menschen mit schwerer Depression hilfebringende Behandlungen ablehnen oder abbrechen können.

Prozac und ähnliche Medikamente wurden bislang unterschiedlich bewertet, seit sie in den 1980ern eingeführt wurden. Manche Experten halten sie für ineffektiv bei einigen Personen und verbinden sie sogar mit der Anwendung von Gewalttätigkeiten.

Angst vor Abhängigkeit

Die neue Forschungsarbeit ergab, dass, noch bevor die Leute ihr erstes Antidepressivum einnehmen, sie schon von sich widersprechenden Aussagen zu diesen Medikamenten beeinflusst werden.

Zum Beispiel scheint jeder Freunde und Verwandte mit gewichtigen Argumenten (Meinungen) zu Antidepressiva zu haben, die u.a. auf eine mögliche Suchtgefahr hinweisen (obwohl Antidepressiva bekanntermaßen physisch nicht abhängig machen, wobei das Absetzen aber psychisch belastende Symptome verursachen kann).

Angst vor Persönlichkeitsveränderungen

Während einige Befragte der Forschungsarbeit behaupteten, dass Antidepressiva sie dazu brachten, sich ‚authentischer‘ zu fühlen, fürchteten andere besonders, dass Antidepressiva ihre Persönlichkeit verändern könnten.

Ein Teilnehmer sagte aus, dass „er sich wie ein funktionierender Zombie fühlte … es nähme das Schlechte weg, aber auch das Gute“.

Angst, etwas Verbotenes zu nehmen

Während Ärzte ihren Patienten normalerweise sagen, dass es viele Wochen dauern kann, bis die Antidepressiva wirken, glaubten einige der Teilnehmer bereits nach nur wenigen Stunden oder Tagen schon die Wirkungen (teils sogar im hohen Maße) zu fühlen.

Eine Frau sagte: „Es war erstaunlich. Bereits nach zwei Stunden fühlte ich mich anders.“ Ein Mann sagte: „Es war, wie unter wirklich starken Drogen … meine Pupillen erweiterten sich.“

Interessanterweise fand die Forschungsarbeit zur Stigmatisierung dieser Medikamente heraus, dass viele mit Depression diagnostizierte Menschen über ihre Antidepressiva-Einnahme sprachen, als ob sie „scheinbar verboten“ wäre. Einer sagte über sein Medikament, „es fühlt sich sehr erbärmlich an … meine schmutzige kleine Angewohnheit, ein schmutziges kleines Geheimnis“.

Die Probleme dieser ‚Pseudo-Unerlaubtheit‘ waren jenen klar, die Antidepressiva in Erwägung zogen bzw. sie nahmen: Es kann schief gehen. „Ich fand es ziemlich unheimlich. Ich war nicht bereit dazu, solch starke Medikamente zu nehmen.“ Andere berichteten, sie seien später abgestürzt, oder hatten schreckliche Halluzinationen durch ihr Antidepressivum.

Angst, (moralische) Schwäche zu zeigen

Antidepressiva zu nehmen, wird häufig auch als eine Form moralischer Schwäche angesehen und eine kaum angemessene Handhabung der eigenen Probleme. Antidepressiva sind stigmatisiert, und ihr Gebrauch kann depressiven Menschen (und deren Freunden und Familie) signalisieren, dass man moralisch versagt, oder sogar etwas Schändliches tut, so glaubten viele der Teilnehmer.

Folgen der Ängste

Professor Damien Ridge von der Universität Westminster kommentierte die Befunde in der Zeitschrift Social Science & Medicine: „Es ist kein Wunder, dass verzweifelte Menschen es so schwierig finden, die sozialen Nachrichten zu entschlüsseln, die sie über Antidepressiva erhalten.

Besonders besorgniserregend ist: Obwohl diejenigen mit schwerer Depression am wahrscheinlichsten von einer Antidepressiva-Behandlung profitieren würden, überlegen sie es sich zweimal, ob sie diese potentiell lebensrettende Behandlung in Anspruch nehmen.“

Die zugrundeliegenden moralischen Sorgen bzw. Stigmata wegen des Antidepressiva-Gebrauchs schwingen immer mit, auch wenn depressive Patienten ihre Antidepressiva sehr positiv sehen, sagte er.

„Aber einige Menschen, mit denen wir sprachen, waren auch schlecht auf die negative Publicity (d.h. Stigma) zu sprechen. Eine Frau sagte, dass ihr Antidepressivum für sie etwas Großartiges bedeutete: ‚Das bin ich an einem guten Tag‘, während ein anderer sagte ‚Ich fordere jeden heraus, mein Leben zu leben … ohne Antidepressiva!'“

© arznei-news.de – Quellenangabe: Universitäten Westminster, Monash, New South Wales, Oxford, Nottingham, Social Science & Medicine; Nov. 2015

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