Wird Depression durch einen niedrigen Serotoninspiegel verursacht?

Die Serotonin-Theorie der Depression: ein systematischer Überblick über die Erkenntnisse

Wird Depression durch einen niedrigen Serotoninspiegel verursacht?

20.07.2022 Auch nach jahrzehntelangen Studien gibt es keine eindeutigen Belege dafür, dass der Serotoninspiegel oder die Serotoninaktivität für Depressionen verantwortlich sind. Dies geht aus einer umfassenden Überprüfung früherer Forschungsarbeiten hervor, die von Wissenschaftlern des University College London geleitet wurde.

Die neue Übersichtsarbeit – ein Überblick über bestehende Metaanalysen und systematische Übersichten – die in der Zeitschrift Molecular Psychiatry veröffentlicht wurde, legt nahe, dass Depressionen wahrscheinlich nicht durch ein chemisches Ungleichgewicht verursacht werden, und stellt die Wirkung von Antidepressiva in Frage.

Bei den meisten Antidepressiva handelt es sich um selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), von denen man ursprünglich annahm, dass sie einen abnormal niedrigen Serotoninspiegel (Serotoninmangel) korrigieren. Es gibt keinen anderen anerkannten pharmakologischen Mechanismus, mit dem Antidepressiva die Symptome der Depression beeinflussen.

Die Hauptautorin Professor Joanna Moncrieff, Professorin für Psychiatrie am UCL und Fachärztin für Psychiatrie am North East London NHS Foundation Trust (NELFT), sagte: „Es ist immer schwierig, etwas Negatives zu belegen, aber ich denke, wir können mit Sicherheit sagen, dass es nach einer riesigen Menge an Forschung, die über mehrere Jahrzehnte hinweg durchgeführt wurde, keine überzeugenden Hinweise darauf gibt, dass Depressionen durch Serotonin-Anomalien verursacht werden, insbesondere durch einen niedrigeren Serotoninspiegel oder eine geringere Serotoninaktivität.“

Serotonin und seine Abbauprodukte

Ziel der Übersichtsarbeit war es, alle relevanten Studien zu erfassen, die in den wichtigsten Forschungsbereichen zu Serotonin und Depression veröffentlicht wurden. Die in die Überprüfung einbezogenen Studien umfassten Zehntausende von Teilnehmern.

Untersuchungen, die den Gehalt an Serotonin und seinen Abbauprodukten im Blut oder in der Hirnflüssigkeit verglichen, ergaben keinen Unterschied zwischen Personen, bei denen eine Depression diagnostiziert wurde, und gesunden Kontrollpersonen (Vergleichspersonen).

Serotoninrezeptoren und des Serotonintransporter

Untersuchungen der Serotoninrezeptoren und des Serotonintransporters, des Proteins, auf das die meisten Antidepressiva abzielen, ergaben schwache und widersprüchliche Hinweise auf eine höhere Serotoninaktivität bei Menschen mit Depressionen.

Die Forscher sagen jedoch, dass die Ergebnisse wahrscheinlich durch die Verwendung von Antidepressiva bei Menschen mit diagnostizierter Depression erklärt werden können, da solche Effekte nicht zuverlässig ausgeschlossen werden konnten.

Senkung des Serotoninspiegels

Die Autoren untersuchten auch Studien, in denen der Serotoninspiegel bei Hunderten von Menschen künstlich gesenkt wurde, indem ihnen die für die Serotoninbildung erforderliche Aminosäure vorenthalten wurde. Diese Studien wurden als Beleg dafür angeführt, dass ein Serotoninmangel mit Depressionen in Verbindung steht.

Eine 2007 durchgeführte Metaanalyse und eine Auswahl neuerer Studien ergaben jedoch, dass eine derartige Senkung des Serotoninspiegels bei Hunderten gesunder Freiwilliger keine Depressionen auslöste. Bei einer kleinen Untergruppe von Personen mit einer familiären Vorgeschichte von Depressionen gab es nur sehr schwache Hinweise, allerdings handelte es sich dabei nur um 75 Teilnehmer, und auch neuere Erkenntnisse waren nicht schlüssig.

Einfluss von Genvariationen; Serotonintransporter-Gen

Sehr große Studien mit Zehntausenden von Patienten untersuchten Genvariationen, darunter das Gen für den Serotonintransporter. Dabei wurde kein Unterschied zwischen Menschen mit Depressionen und gesunden Kontrollpersonen festgestellt. Diese Studien untersuchten auch die Auswirkungen belastender Lebensereignisse und stellten fest, dass diese einen starken Einfluss auf das Risiko einer Depression haben – je mehr belastende Lebensereignisse eine Person erlebt hat, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie depressiv wird.

Eine berühmte frühe Studie fand einen Zusammenhang zwischen belastenden Ereignissen, dem Typ des Serotonin-Transporter-Gens einer Person und der Wahrscheinlichkeit einer Depression. Größere, umfassendere Studien deuten jedoch darauf hin, dass dies ein falsches Ergebnis war.

Diese Ergebnisse führten die Autoren zu der Schlussfolgerung, dass es „keine Unterstützung für die Hypothese gibt, dass Depressionen durch eine verringerte Serotoninaktivität oder -konzentration verursacht werden.“

Antidepressiva und niedrigere Serotoninwerte

Die Autoren fanden auch Hinweise aus einer großen Metaanalyse, dass mit Antidepressiva behandelte Personen niedrigere Serotoninwerte im Blut aufwiesen. Sie kamen zu dem Schluss, dass einige Belege für die Möglichkeit sprechen, dass die langfristige Einnahme von Antidepressiva die Serotoninkonzentration verringert. Den Forschern zufolge könnte dies bedeuten, dass der Anstieg des Serotoninspiegels, den einige Antidepressiva kurzfristig bewirken, zu kompensatorischen Veränderungen im Gehirn führen könnte, die langfristig den gegenteiligen Effekt bewirken.

Obwohl die Studie die Wirksamkeit von Antidepressiva nicht überprüft hat, regen die Autoren weitere Forschung und Beratung zu Behandlungen an, die sich stattdessen auf die Bewältigung von stressigen oder traumatischen Ereignissen im Leben der Menschen konzentrieren könnten, z. B. durch Psychotherapie, zusammen mit anderen Praktiken wie Bewegung oder Achtsamkeit, oder durch die Behandlung der zugrundeliegenden Faktoren wie Armut, Stress und Einsamkeit.

Die Forscher weisen darauf hin, dass jeder, der einen Abbruch der Einnahme von Antidepressiva in Erwägung zieht, angesichts des Risikos unerwünschter Wirkungen nach dem Absetzen den Rat eines Arztes einholen sollte. Die Wissenschaftler erforschen derzeit, wie die Einnahme von Antidepressiva am besten schrittweise beendet werden kann.

© arznei-news.de – Quellenangabe: Molecular Psychiatry (2022). DOI: 10.1038/s41380-022-01661-0

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